Zeitzeugen

Im Folgenden finden sich Aussagen von Zeitzeugen, vor allem von Familienmitgliedern.

 

Nachruf des Sohnes Hermann Brügelmann:

                                                                Berlin, im April 1941
Für die Freunde!

Die Umstände ließen es nicht zu, daß Ihr eine Anzeige mit der Nachricht vom Tod meiner Mutter (…) erhieltet, sodaß ich Euch erst verspätet davon Mitteilung machen kann, da ich in der Zwischenzeit fast dauernd auswärts Dienst zu tun hatte.
Meine Mutter starb völlig unerwartet binnen weniger Sekunden an einem Herzschlag, nachdem sie tags zuvor noch sieben Gesangstunden gegeben hatte und nach dem Urteil aller Schüler, die an dem Tage bei ihr waren, völlig frisch, leistungsfähig, auch unverändert guter Stimmung gewesen war. Auch am Tage ihres Todes war ihr bis zum Augenblick des Eintrittes des Todes nach dem Zeugnis Anwesender nichts anzumerken gewesen. Der Arzt ist der Meinung, daß die schwere Sepsis, die meine Mutter vor 14 Jahren länger als ein Jahr am Rande des Todes im Krankenhaus gehalten hat – ich verbrachte damals viele Wochen vom Morgen bis zum Abend an ihrem Bett – zwar eine leichte Herzerweiterung zur Folge hatte, daß aber ihr Zustand einige Wochen zuvor, wo sie wegen einer Erkältungskrankheit einige Tage das Bett hatte hüten müssen, keinerlei Anlaß zur Besorgnis gegeben habe.

Seit jener Krankheit vor 14 Jahren war sie vom Badischen Staatstheater pensioniert, da sie infolge der Versteifung eines Hüftgelenks nicht mehr voll beweglich war und auch die Stimme gelitten hatte. Jedoch ist sie noch in Konzerten aufgetreten und vor allem wuchs ein Kreis von Schülern und Schülerinnen um sie herum, deren sie zuletzt 14 betreute, einen Teil davon mehr oder weniger unentgeltlich, aus der Freude an der Sache.

Gebürtige Brasilianerin reindeutscher Herkunft hatte sie in Köln studiert, war dann von Schillings für die Oper entdeckt worden und hatte bis 1917 in Stuttgart, dann an der Wiener Hofoper das Dramatische Fach, zuletzt in Karlsruhe das sog. Hochdramatische Fach vertreten. Der „Schwäbische Merkur" leitet seinen Nachruf mit folgenden Sätzen ein: „Mit dem Namen Hedy Iracema-Brügelmann verbindet sich das Andenken an jenes Jahrzehnt, das eine Blütezeit der Stuttgarter Oper bezeichnet. Und in diesem Ensemble …. war die Verstorbene ein leuchtender Stern."
Jeder, der meine Mutter zuletzt gekannt hat, hätte ihr eher weniger als 50 Jahre gegeben statt der 61, die sie erreicht hat, und daß bei einem außerordentlich arbeits- und spannungsreichen Leben der Künstlerin und Frau, die in ihrer Persönlichkeit in besonderer Weise Warmherzigkeit und Kraft, Feuer und Charme vereinte. Es ist uns in den letzten Wochen sehr offenbar geworden, bei wievielen Menschen sie eine Lücke offen läßt. Auch unsere Kinder haben sie sehr geliebt, die jüngste Zweijährige hat sie freilich infolge des Krieges nie kennen gelernt.
Wir konnten nur wenige Tage zu zweit in Karlsruhe sein, dann mußte ich zum Dienst zurück und Lili blieb die Aufgabe, allein den schönen, so harmonischen Haushalt aufzulösen. Vieles haben wir verschenkt, einiges verkauft, das Meiste in Karlsruhe auf Lager gegeben. Dort muß es warten, bis dieser Krieg zu Ende ist (…).

 

Schwiegertochter Lili Brügelmann, geb. Port, 1943
Schwiegertochter Lili Brügelmann, geb. Port, 1943
Sohn Hermann Brügelmann, 1943
Sohn Hermann Brügelmann, 1943

Aufzeichnungen der Schwiegertochter Lili Brügelmann (1899-1975) über ihren Mann, Hermann, und dessen Mutter Hedy:

Betreffend Hermanns Mutter: Seine Mutter ermöglichte ihm den Beginn eines Studiums: Volkswirtschaft, Jura, Psychologie, und noch einiges mehr ... Durch seine Mutter stand er der Welt der Bühne besonders nahe, nicht nur des Musiktheaters. Er war in dieser Atmosphäre aufgewachsen und kannte sie gut.
(…) ausgenommen die religiösen Fragen; da wollte er meine Führung; er kam schwer los von Zweifeln und empfand das als schwerwiegenden Mangel in seinem Elternhaus. Seine Mutter war Katholikin, praktizierte aber nicht; sein Vater war evangelisch, aber wenig interessiert; das lag auch an der Zeit und an dem Brügelmann'schen Geist: Großbürgertum, industrielle Interessen, auch künstlerische. Man lebte behäbig.

Seine ganze Kindheit und Jugend hindurch, ohne Geschwister, hatte Hermann keine fröhliche Kindheit; die faszinierende, starke Persönlichkeit der Mutter war zu allen Zeiten absoluter Mittelpunkt. Ihre künstlerische Tätigkeit bestimmte das Familienleben ganz; das Kind blieb viel allein, war überwiegend dem Hausmädchen ("Dienstboten"), später der Aufsicht einer Hausdame ("Erzieherin") überlassen. Die Eltern waren oft verreist, die Mutter mehrmals auf Monate zu Konzertreisen in Brasilien (zu Schiff natürlich, mit ausgiebigen Verwandtenbesuchen dort), zu Gastspielen in vielen europäischen Ländern. Der Vater war ehrlich bemüht, verehrte die Mutter bewundernd - es war nicht anders möglich, als dass der Sohn zu kurz kam. Nur die gelegentlichen Kurzferien von Stuttgart aus im nördlichen Schwarzwald, Hundsbach, wo man eine kleine einfache Ferienwohnung gemietet hatte, bildeten die Ausnahme. (…)
Als der Sohn 20 Jahre alt war, eben Musikstudent in München geworden, teilte ihm seine Mutter unvermittelt telefonisch mit, der Vater lasse sich jetzt von ihr scheiden, eine andere Frau wolle ihn heiraten - es war ein Schock für den jungen Menschen. (…)

Er wollte bei mir eine immer bereite Partnerin zum möglichst täglichen gründlichen Musizieren finden. (…) Aus der Erfahrung mit seiner Mutter wusste er: nur eine ausgeruhte Sängerin kann gut singen. Also bestimmte er lange zum voraus: auch wenn wir uns sonst nicht viel leisten können, eine Hilfe für den Haushalt müssen wir haben!

 

Auszüge aus der Autobiografie des Enkels Klaus Brügelmann (1931-2011):

Unsere Großeltern, mütter- wie väterlicherseits, lebten ziemlich weit weg (von Berlin, RB): „Müttchen" (Vaters Mutter) Hedy Iracema-Brügelmann hielt sich in Karlsruhe auf, Großmama (Mutters Mutter) Elise in Stuttgart, Großvater (Vaters Vater) Theo in Heutingsheim bei Ludwigsburg. So sahen wir sie nur selten. Da mußte man schon etwas unternehmen, um zueinander zu kommen. (…)
Um Ostern 1938 wurden die diversen Großeltern nacheinander erstmals auf einer Südfahrt besucht, die drei Wochen gedauert hatte. Erstmals bekam ich da einen Eindruck von der Ausdehnung Deutschlands (…). Erste Station: Karlsruhe, „Müttchen" (59), die einstige „Frau Kammersängerin" (Stuttgarter Oper, hochdramatisches Fach), empfing inzwischen wohl nur noch einige Schüler zu Gesangsstunden in ihrer Wohnung in bevorzugter Lage: nahe dem Bahnhof, gegenüber der Endstation der schmalspurigen „Albtalbahn". Auch die Einrichtung sprach – mit Teppichen, Bildern, Möbeln – von einigem Wohlstand. Sie selbst korpulent und temperamentvoll, drückte uns sicher an ihren wogenden Busen.
Aber anzufangen wußte sie halt mit Kindern nicht allzu viel. Mutter schrieb: „Atmosphäre in Karlsruhe war ziemlich nervös". Dazu noch waren wir instruiert worden, von Großvater möglichst wenig zu reden – so war das also bei geschiedenen Leuten. Wir blieben da nicht lange. Es war wohl mehr ein Pflichtbesuch.
Lange hatte diese Generation nicht mehr zu leben: Großvater starb 1940, Müttchen 1941. Wir Kinder begriffen das wohl nur am Rande. Was wir zu spüren bekamen: Die Eltern mußten mehrere Tage weg, Beerdigung und Haushaltsauflösung. Und wenn sie wiederkamen, war es wie eine kleine Bescherung, nur unerwartet und eigentlich ohne Anlaß. Da gab es einzelne, ausgewählte Gegenstände zu erben: Müttchens Kastagnetten (von ihrem Auftritt in „Carmen"), Großvaters Barometer (das seinen Platz über meinem Tisch fand und zu einer ersten Reihenuntersuchung für Temperatur und Luftdruck herausforderte).

 

Von der Enkelin Gerta Stählin (1929-2016) zum 100. Geburtstag von Hedys Sohn Hermann Brügelmann (1999)

Sein Vater Theo Brügelmann war 1864 als 2. Sohn des Fabrikanten Julius Brügelmann (Baumwollspinnerei und -weberei Cromford bei Düsseldorf) geboren worden. Nach Realgymnasium und 5 Jahren Volontariaten und Studium der Landwirtschaft war Theo nach Brasilien gereist, um sich dort als Landwirt niederzulassen. Wegen der Revolutionen in Brasilien gab er diesen Plan als zu riskant auf und arbeitete 8 Jahre als lmport- und Exportkaufmann in Porto Alegre. Er hatte dort die jüngste Tochter (Hedy) des deutschen Konsuls Frederico Haensel kennengelernt, der 1892 „aus politischer Rache" erschossen wurde. Sie sang sehr schön, er spielte gut Klavier - musizierend verliebten sie sich. Zwei Jahre mußten sie warten bis zur Heirat. Da war er 33 und sie 18.

Am 5. November 1899 wurde Hermann Brügelmann in Porto Alegre geboren. Mit 8 Wochen erlebte er den Beginn des neuen Jahrhunderts. Als er ein halbes Jahr alt war, übersiedelte die junge Familie nach Deutschland. Von der wochenlangen Dampferfahrt und der Äquatortaufe wird er wenig gemerkt haben, denn er blieb im Schutz seiner schwarzen Amme Vovo. Während der ersten 4 Lebensjahre war sie der wichtigste Mensch für ihn. Das erschien dann den Eltern bedenklich: sie mußte verschwinden — ein großer Verlust für ihn.
Seine Mutter entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einer der bekanntesten Opernsängerinnen ihrer Zeit - ihr Mann begleitete sie auf diesem Weg. Als einziges Kind in einem Künstlerhaushalt lebend, genoß Hermann Brügelmann schon früh große Freiheiten. Aber er war auch oft — besonders abends, wenn die Eltern in der Oper waren - alleingelassen.

Damals gewann er gute Freunde. Am Stuttgarter Gymnasium galt er als einer der drei Göttersöhne, deren Eltern am Theaterhimmel glänzten. Mit genialischem Anspruch setzten sich diese drei Jugendlichen über schulische Niederungen hinweg, philosophierten bei Tee und Zigaretten bis in die Nacht hinein und planten, miteinander eine Oper zu schreiben. Daß Hermann Brügelmann Dirigent und Komponist würde, stand fest: „Generalmusikdirektor".
1917 wurde er rekrutiert, wegen hochgradiger Kurzsichtigkeit als Sanitäter eingesetzt. Während des Musikstudiums (1919-1923) hatte er wegen seiner berühmten Mutter eine Sonderrolle, und erste Erfolge schienen diese zu rechtfertigen. Aber in ihm wuchsen die Zweifel, ob er die hochgesteckten Erwartungen und Ansprüche erfüllen könne. Er spürte, daß er nicht der war, den andere in ihm sahen und den er selber in sich gesehen hatte. (…) Er brach das Musikstudium abrupt ab, wandte sich von der Welt seiner Mutter ab. Mit 26 Jahren begann er in Basel das zweite Studium: Nationalökonomie (Volkswirtschaft), Nebenfächer Jura und Psychologie. Die Musik blieb das wichtigste Nebenfach seines Lebens.

 

Erinnerungen der Enkelin Gerta Stählin (1929-2016), aufgezeichnet im Mai 2012

Sie hieß Hedwig, genannt Hedy. Iracema war ihr Künstlername, nach einer brasilianischen Freiheitsheldin.

„Hochdramatischer Sopran" betrifft die Stimmlage und bedeutet, dass sie gut geeignet war für die großen Wagner-Opern. Sie war temperamentvoll. Aber dass sie in Bizets Oper nicht die Carmen, sondern die Rolle der Michaela sang, hing damit zusammen, dass sie keine raffinierte Frau war. Es gibt Bühnenfotos von verschiedenen Rollen, als Autogramm-Karten. (…)
Wenn sie einen Ruf an ein Opernhaus erhielt (Stuttgart, Karlsruhe ...)‚ nahm sie ihn unter der Bedingung an, dass ihr Mann in der Stadt eine Stellung als Bankdirektor bekam. (Vielleicht ist diese Formulierung etwas salopp, wie unsere Mutter manchmal sprach.) Er war ihr sehr wichtig. Und es gibt entzückende kleine Liebesbriefchen mit gepressten Blumen von ihm an sie. Aber nach fast 20 Jahren hatte er genug von der Rolle als Prinzgemahl, ließ sich scheiden und heiratete eine etwas hysterische, unselbständige Frau. Hedy soll aus allen Wolken gefallen sein und nicht verstanden haben, was ihn ihr entfremdet hatte.

Ihre Krankheit war die Folge eines Unfalls, den sie mit 40 Jahren hatte. Sie war ja hochgradig kurzsichtig (-12 Dioptrien, natürlich bei Auftritten ohne Brille!) Sie hat bei den Proben ihre Schritte auf der Bühne gezählt ... Beim Abgang von der Bühne ist sie dann eine Treppe hinab gestürzt, ihr Partner hätte sie halten sollen, und hat sich das Bein gebrochen. Danach hinkte sie, ging am Stock. Da war es Schluss mit der Oper.
Vater meinte, dadurch sei ihr die demütigende Situation der alternden Sopranistin erspart geblieben. Sie hat dann noch Liederabende gegeben. In Karlsruhe hat sie bis zu ihrem plötzlichen Tod mit Begeisterung als Gesangspädagogin gearbeitet. Sie starb mit 61 Jahren, als sie zum Friseur ging, dort wartend auf die Straße ging, um Luft zu schnappen — fiel um und war tot.

Geschichten, die ich zum Teil von meiner Mutter weiß:
Sie hatte mit Gewichtsproblemen zu kämpfen, war vollschlank. Jedes Jahr machte sie in einem Sanatorium, eine Null-Diät. Aber weil sie gern gut aß, verpuffte die Wirkung schnell.

Dass sie 1929 zurück zu ihrer Familie (in Brasilien, RB) wollte, bestätigt, dass sie zu ihrem einzigen Sohn damals kaum Kontakt hatte. Sie hatte ihm nach dem Musikstudium ein zweites Studium finanziert. Ich nehme an, dass sie schon nicht recht einverstanden war, dass er die Musik aufgab, während sie große Erwartungen in seine Dirigenten-Laufbahn gesetzt hatte. Dass er dann aber gleich nach dem Abschluss heiratete, wird ihr missfallen haben. Und er hatte wohl das Gefühl, sie sei manchmal übergriffig und entzog sich ihr. Meiner Mutter lag viel an einer Versöhnung.

Als ich noch keine zwei Jahre alt war, nahmen mich meine Eltern zum ersten Besuch bei ihr nach Karlsruhe mit, und ich nannte sie „Müttchen", (von den Eltern gehört „Muttchen"). Sie war entzückt, denn sie wollte keine Oma sein. Außerdem ähnelte ich meinem Vater sehr, und sie schloss mich ins Herz. Der Name blieb ihr von uns Enkeln. Und das Eis war gebrochen.
Sie strickte für uns Enkel schöne Sachen aus besonderen Wollen, mit Hilfe einer Beraterin im Wollgeschäft. Ich habe schöne Jacken bekommen und Kleider, deren Rock und Ärmel aus Samt, das Oberteil gestrickt war.

Sie hat uns einige Jahre lang zu Weihnachten besucht, in der Berliner Zeit, also ab 1936. In meinem ersten Schuljahr habe ich ziemlich versagt, weil der Tod des jüngeren Bruders Peter die Familie sehr beutelte. Außerdem wusste ich nicht, dass ich kurzsichtig bin und dachte, ich wäre zu dumm, um von der Tafel richtig abzuschreiben. In den Weihnachtsferien 1936 hat Müttchen mit großer Geduld und viel Ermunterung mit mir Schreiben geübt - mir fiel es schwer, ich glaubte nicht, dass ich es könne. Sie hat mir damals sehr geholfen.
Ein „italienischer Salat" wurde unter ihrer Anleitung zu Weihnachten bereitet (da kamen sowohl verschiedene Gemüse als auch Fleisch und Hering hinein). Und sie brachte eine Ananas mit — ein uns völlig unbekannter Genuß. Bei jedem ihrer Besuche gab sie unserer Mutter Gesangsunterricht (Lili war auch ausgebildete Sängerin, RB). Die bereitete sich darauf schon vor mit Stimmübungen‚ war aufgeregt wegen der kritischen Schwiegermutter. Die hatte tatsächlich allerhand auszusetzen, vor allem an der mangelnden Atemtechnik: Lili verausgabte sich singend völlig und hatte dann plötzlich keine Luft mehr. Natürlich wurden viele Weihnachtslieder gesungen, auch mehrstimmig. Und Klaus und ich zeigten unsere Flötenkünste.

Mit etwa 8 Jahren habe ich ihr erklärt, mir sei Musik mit Instrumenten lieber als Gesungenes. Sie versuchte mich zu überzeugen, indem sie eine Schallplatte mit Caruso auflegte. Mit dem hatte sie gemeinsam gesungen, und er galt als der beste Sänger der Welt. Dass ich dabei blieb, enttäuschte sie, weil Singen ihr Leben war. (Mir war das Tremolo zuwider).

Als ihr ein Wannenbad bereitet wurde, bremste sie schon bald, und auf den Einwand, die Wanne sei doch erst zu einem Viertel gefüllt, entgegnete sie : „Wenn ich drin bin, ist sie voll."

Sie riet unserer Mutter, deren Haare schon mit etwa 35 Jahren ergrauten, zum Färben, weil sie ja einen jungen Mann habe. Und sie war sehr stolz auf ihren Sohn! Sie selbst ließ sich selbstverständlich die Haare färben.

Bei den beiden Großeltern-Besuchen im Frühjahr und im Herbst 1938 wurde uns erklärt, wir sollten bei Müttchen nicht über den Großvater sprechen, den wir (vorher oder nachher) in Heutingsheim bei Ludwigsburg auch besuchten. Das mache sie traurig. Da lag die Scheidung schon fast 20 Jahre zurück, und Großvaters zweite Frau war schon gestorben. Wie wir später erfuhren, hatte Müttchen auch einen Liebsten.

Ich habe ihre Wohnung als elegant und modern in Erinnerung. Wir aßen an einem Glastisch, auf dem nicht ein Tischtuch, sondern Sets lagen. So was hatte ich noch nie gesehen. Und es gab sehr leckere Sachen. Ihr Schlafzimmer in heller Birke hatte sie sich bauen lassen. Begeistert war ich von ihrem Biedermeier-Sekretär mit vielen kleinen Schubladen. „Den bekommst du später", sagte sie. -  Nach dem Krieg waren ihre Möbel noch in dem Karlsruher Depot ziemlich gut erhalten, und ich bekam den Sekretär.

Nach ihrem Tod bekamen wir ihr Radio — so was hatten wir vorher nicht. Außerdem kamen einige Perücken, Theaterschmuck und lange seidene Unterröcke nach Berlin — an anderes erinnere ich mich nicht.

So, ich denke, Ihr könnt Euch in Etwa eine Vorstellung machen von unserer berühmten Großmutter, die bei jeder Begegnung die Ahnung von der großen Welt mitbrachte, und die ich sehr geliebt habe.

 

Ergänzungen zu den Erinnerungen der Enkelin Gerta Stählin

Als ich in Stuttgart und dann in Heidelberg während meiner Ausbildungen in Untermiete wohnte (1950/1960), haben die Vermieterinnen mich auf den Namen angesprochen, und es stellte sich heraus, dass sie als junge Mädchen für Hedy Iracema geschwärmt hatten!

Theo Brügelmann, 1864 als zweiter von 4 Söhnen und 2 Töchtern des Cromforder Fabrikanten Julius Brügelmann (Baumwollspinnerei und -weberei; Cromford war der Ort in England, von dem sein Vorfahr die Spinnmaschinen heimlich importierte – und damit trug er zum Verarmen der schlesischen Weber bei, deren Handarbeit nicht mehr gebraucht wurde….) geboren, absolvierte nach dem Realgymnasium 5 Jahre Studium und Praktika der Landwirtschaft. Er ließ sich sein Erbteil auszahlen und reiste nach Brasilien, um dort eine Farm zu erwerben. Nachdem er das Land genauer kennen gelernt hatte, gab er diesen Plan auf, weil die Aufstände gegen die portugiesischen Kolonialherren und europäischen Großgrundbesitzer keinen ruhigen Aufbau erwarten ließen. In Porto Alegre befreundete er sich mit der Familie des Bankiers und deutschen Konsuls (nebenberuflich) Frederico Haensel. Dessen jüngste Tochter sang, er begleitete sie am Klavier: sie verliebten sich. Zwei Jahre mussten sie warten, bis er (33) sie mit 18 Jahren heiraten konnte. In dieser Zeit erlernte Theo das Bankwesen.

1899 kam der einzige Sohn Hermann zur Welt. 1900 übersiedelte die kleine Familie nach Deutschland, mit der Amme Vovo, einer Schwarzen. Vier Jahre war sie wohl die engste Bezugsperson des Kindes. Das missfiel den Eltern dann, und Vovo wurde heimgeschickt. Hermann wurde Bettnässer…. Über Hermanns Kindheit weiß ich nicht viel. Er musste noch mit 12 Jahren kurze Kinderhosen tragen, weil es seiner Mutter nicht angenehm war, dass man sich beim Anblick ihres Sohnes ihr Alter ausrechnen konnte – sie sah viel jünger aus. Es gab auch die Anekdote, dass sie, auf dem Sofa liegend Pralinen aß und ihm die in den Mund steckte, die ihr nicht schmeckten.

Der Liebste ihrer späten Jahre muss Pianist gewesen sein, auch ihm ist sie über die Musik nahe gekommen. Sein Name ist mir nicht bekannt, ob ihn Lili kannte, weiß ich nicht.

 

Werner Krauss, Schulfreund des Sohnes Hermann (Gedenkschrift für Hermann Brügelmann, 1974):

(…) Für mich, schon in der Sexta leidenschaftlicher Theatergänger, wie für das damalige Stuttgart war Hedy Iracema-Brügelmann bereits ein strahlender Name (nachzulesen etwa in der Geschichte des Stuttgarter Hoftheaters aus der Feder meines Vaters Rudolf Krauss). (…)
Mir trug solches Trödeln beim Schulweg manchen Tadel der eher bürgerlichen Eltern ein. Ganz anders bei Hermann: im Künstlerhaushalt gingen die Uhren anders. Er verfügte frei über die Wohnung, konnte tun und lassen, was er wollte. Bei ihm war es denn auch, daß wir zwei immer wieder fast rauschhafte Nächte verbrachten. Alkohol spielte dabei gar keine Rolle, nur Tee, ganz schwarzer Tee in großen Mengen, dazu viel Apfelkuchen, von dem nie etwas übrig blieb. (…)

Hermanns großes Vorbild, sein „Modell" war der Stuttgarter Dirigent Max Schillings. So weit wollte er es einmal bringen. Allerdings, so meinte er, gehöre dazu als solide Grundlage die sichere Beherrschung mehrerer Instrumente. Vielleicht spielte das dann mit bei seinem Umschwenken 1923.

 

Eugen Jochum (1902-1987), Freund und Mitstudent von Sohn Hermann (Gedenkschrift für Hermann Brügelmann, 1974):

Er war schon da, der um drei Jahre Ältere, als ich im Herbst 1922 nach München an die Akademie der Tonkunst kam. Aber daß wir zueinander fanden, lag wohl nur daran, daß ich gleich in die zweite Klasse aufgenommen wurde, die damals Hermann Wolfgang von Waltershausen leitete. (…)

Schon Hermanns (Brügelmann) Mutter, die Sängerin, war von Waltershausen sehr geschätzt; sie gastierte oft in München und hatte eine seiner Opern in der Titelrolle aufgeführt. So hielt er dann auf den Sohn große Stücke. Wir anderen hatten es daneben nicht immer leicht. (…)